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Die Erinnerung wachhalten

31.08.2023

Das Deutsche Technikmuseum erinnert an die Berliner Steindruckerei Paul Pittius und ihre in der NS-Zeit ermordeten ehemaligen Eigentümer Julius und Martin Gerson.

Pressematerial

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Pressemitteilung

Die Erinnerung wachhalten
Das Deutsche Technikmuseum erinnert an die Berliner Steindruckerei Paul Pittius und ihre in der NS-Zeit ermordeten ehemaligen Eigentümer Julius und Martin Gerson.

Das Deutsche Technikmuseum in Berlin hat am Donnerstag einen Gedenkstein und die Online-Ausstellung „Drucksteine erzählen. Die Geschichte der Brüder Gerson und ihrer Steindruckerei Paul Pittius“ vorgestellt. Beides soll an die Brüder Julius und Martin Gerson und ihre Firma Paul Pittius erinnern. Familienangehörige und Freunde der Familie der Gersons waren bei dem Termin zugegen. Die Rückgabe ist das Ergebnis eines vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Provenienzforschungsprojekts zur Herkunft der Museumsobjekte im Deutschen Technikmuseum.

Ein fast vergessenes Berliner Unternehmen

Die „Steindruckerei und Luxuskartenfabrik Paul Pittius“, ab 1907 in der Köpenicker Straße 110 in Berlin Mitte ansässig, ist heute fast vollkommen vergessen. In den 1920er Jahren gehörte sie zu den größten Produzenten von Glückwunsch- und Postkarten und beschäftigte mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mitte der 1960er Jahre wurde das Unternehmen aufgelöst, das Gebäude abgerissen. Der Drucker Dietmar Liebsch kaufte die letzten Drucksteine und anderes Material. Er baute damit seine eigene Werkstatt auf, die das Deutsche Technikmuseum 2017 erwarb, darunter mindestens sechs Drucksteine von Paul Pittius. Im Rahmen der Provenienzforschung hat sich das Museum intensiv mit der Geschichte des Unternehmens und seiner Eigentümer beschäftigt.

Das Schicksal der ehemaligen Eigentümer

Zu Beginn der NS-Herrschaft waren die Brüder Julius und Martin Gerson Inhaber der Druckerei. Als Juden und bekannte Pazifisten befanden sie sich in besonderer Gefahr und reagierten umgehend. Ihre Kinder verließen bereits Anfang 1933 Deutschland. Die Brüder wandelten ihr Unternehmen in eine AG um. Davon erhofften sie sich einen gewissen Schutz vor staatlichen Maßnahmen. Zudem übertrugen sie die Leitung der Firma zwei langjährigen Mitarbeitern. Als sie für sich keine Zukunft mehr in Deutschland sahen, verkauften sie ihre Anteile und bereiteten die Auswanderung vor. Ende 1938 emigrierte Julius über Brüssel nach Nizza, wurde dort 1943 verhaftet, nach Deutschland verschleppt und im Untersuchungsgefängnis Karlsruhe ermordet. Martin blieb in Berlin zurück. Am 25. September 1942 wurde er ins sogenannte Altersghetto Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Die Kinder der Gersons und Martins Ehefrau Rosa überlebten.

Eine faire und gerechte Lösung

Julius und Martin Gerson mussten ihr Unternehmen unter dem Druck der Verfolgung verkaufen. Daher bewertet das Deutsche Technikmuseum den Verkauf als Zwangsverkauf und die Drucksteine als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Für solches soll, so die Position Deutschlands, eine gerechte und faire Lösung zusammen mit den jeweiligen Erbinnen und Erben gefunden werden. Die in den USA lebende Enkelin von Julius Gerson entschied, dass die Steine im Museum verbleiben und zusammen mit dem Gedenkstein an Julius und Martin Gerson erinnern sollen.

In enger Zusammenarbeit mit der Familie der Gersons und mit der Familie des späteren Eigentümers, der das Unternehmen fortsetzte und die Kinder der Gersons nach 1945 in Wiedergutmachungsverfahren vertrat, entstand die virtuelle Ausstellung „Drucksteine erzählen“ bei der Deutschen Digitalen Bibliothek. Die Ausstellung ist in deutscher und englischer Sprache unter folgendem Link abrufbar:

https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/paul-pittius/#s0.

Für Martin Gerson gab es bereits einen Stolperstein in Berlin: am Hohenzollerndamm 35a.  Am 23.03.2023 konnte auf Initiative der Familie Gerson ein Stolperstein für Julius Gerson vor seinem ehemaligen Haus mit der Adresse Im Dol 23 verlegt werden. Sein Schicksal nach seiner Verhaftung in Nizza konnte durch die Provenienzforschung am Deutschen Technikmuseum geklärt werden.

Radios und Fahrräder: Technisches Kulturgut im Fokus der Provenienzforschung

Lange Zeit konzentrierte sich die Provenienzforschung auf Kunstwerke, später auch auf die Bestände von Bibliotheken. Technische Kulturgüter und Produktionsmittel wie Maschinen, Telefone, Schreibmaschinen oder Fahrräder, die ihren Besitzerinnen und Besitzern unter dem NS-Regime entzogen wurden, fanden keine Beachtung. Vermutlich, weil sie zum Zeitpunkt des Entzugs keine Kulturgüter waren, sondern Alltagsgegenstände und Gebrauchsgüter. Dennoch ist es notwendig, auch solche Gegenstände zu untersuchen – auch wenn die Provenienzforschung dabei, etwa aufgrund der seriellen Herstellung, vor anderen Herausforderungen steht. Dass es tatsächlich möglich ist, die Provenienz von technischen Objekten festzustellen, hat die bisherige Arbeit am Deutschen Technikmuseum gezeigt. 2022 wurde, mitinitiiert von Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Optischen Museums Jena und des Deutschen Technikmuseums, die Arbeitsgruppe Technisches Kulturgut im Arbeitskreis Provenienzforschung e.V. gegründet.

Provenienzforschung im Deutschen Technikmuseum

2019 begann im Deutschen Technikmuseum die Provenienzforschung als eigenständige Aufgabe. Die Grundlagen für die Erforschungen der Sammlung wurden von 2019 bis 2020 im Rahmen eines, vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten, Modellprojekts geschaffen. Darauf aufbauend startete im Mai 2020 ein ebenfalls vom Zentrum gefördertes weiteres Projekt, das die Erwerbungen von der Museumsgründung 1982 bis zum Mauerfall 1989 untersucht. Dieses Vorhaben wird voraussichtlich Ende 2024 abgeschlossen sein. Der Berliner Senat hat inzwischen zwei unbefristete Stellen für die Provenienzforschung im Deutschen Technikmuseum zur Verfügung gestellt. Damit ist die Forschung langfristig gesichert. Zukünftig wird die Sammlung dann sowohl auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut als auch auf Objekte mit einem Bezug zur DDR-Zeit und auf Objekte mit kolonialen Kontexten untersucht werden.